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Ein Anwalt der Kinder

Erich Kästner verstand die Kinderseele wie kein Zweiter. Obwohl er sich selbst nicht als Kinderbuchautor bezeichnete, konnte er mitWerken wie „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ oder „Das doppelte Lottchen“ durch ihre Augen sehen und auch in Romanen, wie „Drei Männer im Schnee“, das Kindliche bewahren. Vor 125 Jahren kam der Antimilitarist, Humanist und Menschenfreund auf die Welt, vor 50 Jahren verließ er sie wieder.

   Text: Elmar Schalk     Fotos: Nina Bauer



Das Ganze war ein riesiger Bluff: Anfang März 1945, als immer mehr Bomben auf Berlin fielen und sich die Front unaufhaltsam heranschob, reiste ein 60-köpfiges Ufa-Team nach Mayrhofen in Tirol. Ihr Auftrag: Dringende Außenaufnahmen in den Alpen für den Film „Das verlorene Gesicht“. Das Propagandaministerium hatte den Dreh zunächst abgelehnt, doch der entscheidende Hinweis, dass dieser Film für den kurz bevorstehenden Endsieg gedacht sei, zeigte Wirkung. In letzter Minute kam sogar noch ein Drehbuchautor und seine Lebensgefährtin mit auf die Liste – Erich Kästner und Luiselotte Enderle. Der 46-jährige Kästner war zwar seit zwei Jahren mit einem kompletten Schreibverbot belegt, doch das Ufa-Team besaß noch einige vom Reichsfilmintendanten unterschriebene Blankoformulare. So wurde in Mayrhofen mit sichtbarem Aufwand fleißig gedreht, während die Dorfjugend dabei staunend zusah. „Wie erstaunt wäre sie erst gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass die Filmkassette der Kamera leer war!“, erinnert sich Kästner in seinem überarbeiteten Tagebuch „Notabene 45“. Denn es gibt keinen Filmdreh im Zillertal, die Ufa-Leute wollen das Ende des Krieges in sicherer Entfernung abwarten. Dabei die ständige Angst, dass der Schwindel auffliegt. Als eine einflussreiche Nationalsozialistin vor Ort die Männer für den „Volkssturm“ heranziehen will, kann dies nur durch eine höhere Instanz in Berlin abgewendet werden. Richtig aufatmen kann die Filmcrew erst, als Ende März amerikanische Truppen in Mayrhofen einmarschieren. Zwölf Jahre hatte die Diktatur gedauert, voller Terror und Zensur.



Unter Pseudonym 

1899, als das Einzelkind Emil Erich Kästner in Dresden geboren wurde, stampfte der Fortschritt des 19. Jahrhunderts durch das noch junge Kaiserreich, schubste die einen zur Seite und trieb die anderen in die Industrie. So auch den Sattlermeister Emil Richard Kästner, der in einer Kofferfabrik schuftete, während seine Frau Ida das schmale Gehalt als Dienstmädchen, Heimarbeiterin und später Friseurin aufbesserte. Ihr ganzer Stolz war der kleine Erich – er sollte später den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen. Von ihr wurde der Bub mit einem Übermaß an Liebe und hohen Erwartungen gefüttert. Bis zu ihrem Tod 1951 war es eine sehr enge Beziehung mit fast täglichem Briefverkehr, in der sich der Sohn verpflichtet fühlte, für seine Mutter immer das Beste zu geben. Trotzdem schlug er nicht den erwünschten Berufsweg ein, brach nach drei Jahren seine Ausbildung zum Volksschullehrer ab und wurde 1917 zum Militärdienst einberufen. Hatte er als Kind noch schöne, kaisertreue Gedichte verfasst, so war er nach dem Ersten Weltkrieg ein überzeugter Antimilitarist. In Leipzig studierte Kästner u.a. Geschichte, Theaterwissenschaft und Philosophie, jobbte als Parfümverkäufer, Journalist und Theaterkritiker, um dann als 26-jähriger in Germanistik zu promovieren. Als ihn die „Neue Leipziger Zeitung“ wegen eines angeblich frivolen Gedichtes vor die Tür setzte, zog Kästner nach Berlin und schrieb weiter für den ehemaligen Arbeitgeber unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“. Der Sachse mit der spitzen Feder und dem verschmitzten Lächeln war in den 1920ern sehr produktiv und arbeitete für mehrere Publikationen gleichzeitig. Dabei entwickelte sich der Journalist immer mehr zum Schriftsteller. Noch wurde sein erstes größeres Werk, die Komödie „Klaus im Schrank oder Das verkehrte Weihnachtsfest“, 1927 von den ihm angeschriebenen Verlagen als „zu modern“ abgelehnt. Zwei Jahre später – Erich Kästner hatte inzwischen eine Gedichtsammlung veröffentlicht und beschäftigte eine Privatsekretärin (Elfriede Mechnig, die bis zu seinem Tod für ihn arbeitete) – schlug sein erstes Kinderbuch wie eine Bombe ein.



Der doppelte Emil

Bereits nach einem Jahr hatte sich „Emil und die Detektive“ 10.000-fach verkauft. Heute geht man weltweit von über 3,2 Mio. Exemplaren aus. Bereits 1931 wurde der Kinderkrimi gelungen verfilmt. Dass die Geschichte um ­einen Jungen, der mit anderen Kindern ­einen erwachsenen Dieb fängt, damals so erfolgreich war, ist nachvollziehbar: Kästner zeichnet die Story mit wenigen, sehr klaren Worten in einem seiner­zeit sehr modernen Schreibstil, dabei ist seine Sprache humorvoll-kreativ. Außer­dem schildert er detailgenau die echten Locations in Berlin. Und schließlich sind seine jugendlichen Protagonisten eigenständige Persönlichkeiten, die immer genau zu wissen scheinen, was zu tun ist. Solche „normalen“ Helden kannten die Kinderbuchleser und -leserinnen bis dato nicht. Zudem: Statt von oben herab, schreibt der Autor auf Augenhöhe. Doch warum sind die Bücher von Erich Kästner auch heute noch so lesbar, lebendig und aktuell? Zum einen, weil sein Schreibstil zeitlos ist. Zum anderen spielt es keine Rolle, ob es sich bei seinen Hauptdarstellern um Kinder oder Erwachsene handelt – es sind einfach nur Menschen mit großen und kleinen Sorgen. Dass er sich in seinen Texten oft auf das Wesentliche beschränkt, lässt ebenso Raum für die eigene Fantasie. Und schließlich steckt so viel Kästner in den Erzählungen, dass die Emotionen und Gedanken absolut authentisch wirken. Wie ein Schauspieler, der auf der Bühne persönliche Dinge von sich preisgibt, und damit der Rolle echtes Leben einhaucht. Tatsächlich gibt es unzählige, offen sichtliche Parallelen zwischen den Hauptfiguren und dem Schriftsteller. Für sein erstes Kinderbuch ließ sich Kästner beispielsweise von einem Kindheitserlebnis inspirieren, als er eine Betrügerin verfolgte, die seine Mutter (Friseurin) geschädigt hatte.



Ungeschminkte Medusen

Entscheidend für den literarischen Erfolg, damals wie heute, ist aber die unbedingte Menschenliebe des Autors; wohl wissend, dass der Homo Sapiens fehlerbehaftet sein kann. „Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.“ ist Kästners populärstes Zitat. Wenn sich die menschliche Gesellschaft jedoch von ihrer dümmsten, grausamsten und raffgierigsten Seite zeigte, schüttelte dieser enttäuscht den Kopf und mischte seine Texte mit Verbitterung und Sarkasmus. So, wie in „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ – ein Großstadtroman, der den Niedergang der Weimarer Republik 1931 vorweg nimmt und ursprünglich „Der Gang vor die Hunde“ heißen sollte. Umso heller und wärmer strahlt seine ­Zuversicht in den Kinderbüchern: Auch wenn die Kindheit nicht nur „aus prima ­Kuchenteig gebacken“ sei, werde letztlich alles gut werden, versichert der Autor. Mit dieser Grundeinstellung und der Hoffnung, dass der braune Spuk maximal ein Jahr dauern werde, wappnete er sich 1933 für das Dritte Reich. Sehr schnell wurde es dunkel. Als wenige Monate nach der Machtübernahme „Das fliegende Klassenzimmer“ erschien, stand der Name seines langjährigen Illustrators Walter Trier schon nicht mehr auf dem Titel, weil er Jude war. Drei Jahre später emigrierte Trier nach London. Auch Kästner selbst ­hätte allen Grund gehabt, das Land zu verlassen. Wie viele andere Kollegen war er den ­Nazis verhasst und all seine Bücher – bis auf „Emil und die Detektive“ – wurden verbrannt, während der 34-jährige dabei zusah. Doch er blieb aus verschiedenen Gründen. Zum einen wegen seiner in Dresden lebenden Mutter, die an Depressionen litt. Außerdem konnte er bis 1943 unter Pseudonymen weiterarbeiten, bzw. Bücher im Ausland veröffentlichen. Aufgrund einer Sondergenehmigung von Goebbels schrieb er für die Ufa sogar das Drehbuch zu „Münchhausen“, einem der ersten deutschen Farbfilme. Im Vorspann und in der Presse wurde er als Drehbuchautor aber totgeschwiegen. Und schließlich wollte Kästner in dieser Zeit auch Chronist sein, führte ein geheimes Kriegstagebuch, um daraus einen Roman über das Dritte Reich zu schreiben. Doch als er nach Kriegsende einen Auschwitz-Überlebenden kennenlernt und dessen Bericht niederschreibt, ist der Schriftsteller sprachlos. Später wird er erklären, warum er das Grässliche der Zeitgeschichte in keine Kunstform bringen wollte und konnte: „Wir müssen der Vergangenheit ins Gesicht sehen. Es ist ein Medusengesicht, und wir sind ein vergessliches Volk. Kunst? Medusen schminkt man nicht.“



Emil weltweit

Für den Wiederaufbau war der leiden­schaftliche Humanist der richtige Mann. In München leitete Erich ­Kästner das Feuilleton der „Neuen Zeitung“, brachte Kinder- und Jugendzeitschriften heraus, arbeitete für das literarische Kabarett (wie die „Schaubude“) und schrieb zahlreiche Texte über den Nationalsozialismus und den Krieg, etwa „Die Konferenz der Tiere“. Stärker als je zuvor ist der Mittfünfziger nun Antimilitarist, demonstriert gegen die Remilitarisierung und später gegen den Vietnamkrieg. Ebenso heftig kritisiert er Einschränkungen der Pressefreiheit, wie das „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ oder die Durchsuchungen und Verhaftungen in der „Spiegel“-Redaktion 1962. Beruflich ist Kästner weiterhin erfolgreich. Gut 20 Jahre nach Erscheinen seines Buches kommt „Drei Männer im Schnee“ auch in die Kinos: Die Verwechslungskomödie von 1955 ist eine geistreiche, warme Weihnachtsgeschichte verfilmt mit Paul Dahlke, Günther Lüders und Claus Biederstaedt. Dort ist der Autor als Erzählstimme zu hören, wie auch in etlichen Verfilmungen seiner Kinderbücher. Längst haben die Geschichten um Arthur, Pünktchen, Johnny oder den kleinen Dienstag Landesgrenzen übersprungen, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt. Als Zeitzeugen sieht man Erich Kästner 0öfters im Fernsehen der 1960er, wenn es beispielsweise um das Thema „Bücherverbrennungen“ geht. Als Schriftsteller veranstaltet er Lesungen seiner Werke im Theater und schreibt bis ins Jahr 1968. Als Privatmensch bleibt er zeitlebens unverheiratet, hat aber langjährige Liebesbeziehungen und Affären, und pendelt zwischen Berlin und München: Im Norden wohnt seine Freundin Friedel Siebert mit dem gemeinsamen Sohn Thomas, im Süden seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, mit der er einst nach Tirol floh. Beiden Frauen fühlt er sich verpflichtet, bis ihm die Mutter seines Sohnes 1969 Lebewohl sagt. Nach mehreren Klinikaufenthalten stirbt Emil Erich Kästner am 29. Juli 1974 im Münchener Stadtteil Neuperlach und die Welt ist um ­einen klar denkenden Menschen ärmer.

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